Yijing


Alternativ

“Lektüre des Yijing im Schatten der Pinie” von Liu Sung-nien (1174-1224) © National Palace Museum, Taipeh (Taiwan)

„… wenn ich nur etwas vom I Ging verstehe,
muss ich sagen, es ist DAS Buch,
das den Menschen über seinen eigenen Weg
und dessen grossen Wert unterrichtet.“
C.G. Jung (1875-1961)*

Orakel und Klassiker

Herr Yin fragte einst einen Mönch: “Was ist die Grundidee des Yijing?” Seine Antwort war schlicht: “Resonanz”.

“Resonanz” gehörte zur Grundüberzeugung der altchinesischen Kultur: Der Mensch ist eingebettet in ein Geflecht von Wechselwirkungen von Himmel und Erde, von Makro- und Mikrokosmos. Das Yijing verbindet diese Sphären von “oben und unten”, da seine Autoren – mythische “Weise des Altertums” – diese Wechselwirkungen in vollkommener Weise abzubilden vermochten. (Diese Lehrmeinung galt bis zu Beginn des 20. Jh. als unbestritten).

Das “Buch der Wandlungen” ermuntert den Leser, den Zeitsinn einer Situation zu ergründen und ihre Entwicklungstendenzen einzuschätzen. Ein Gespür für die Qualität eines Momentes ermöglicht erst angemessenes Handeln und Verhalten, ein “gutes Timing” einen harmonischen Umgang mit der inneren und äusseren Dynamik des Lebens.

Das Yijing (I Ging, I Ching) hat seine Wurzeln in der Bronzezeit des Alten China (9.-7. Jh.v.Chr.). Es besteht aus 64 Strichzeichen (gua), die durch kurze Texte (yao) erläutert werden. Diese 64 gua bilden den Kern des Werkes. Sie repräsentieren grundlegende Erfahrungs- und Zeitqualitäten wie Geburt, Hochzeit und Tod. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Bildzeichen und Texte immer wieder neu gedeutet. Es entstand eine umfangreiche Kommentarliteratur mit philosophisch-kosmologischem Hintergrund, die das Buch in den Rang eines Klassikers erhob.

Seit seinen Anfängen ist das Yijing mit einer eigenen Orakeltechnik verbunden. Sie erlaubt es, auf eine Frage ein oder zwei gua als Antwort zu erhalten. Das Yijing zeichnet sich auf diese Weise durch eine alltagspraktische und eine philosophische Seite aus. Als Orakel wurde es von Kaisern, Generälen und Gelehrten wie auch vom einfachen Volk als Entscheidungshilfe befragt. Daneben lädt der assoziative Charakter seiner Bilder zum Studium und zur Selbsterkenntnis ein.

Heute zählt das „Buch der Wandlungen“ zum Kanon der Weltliteratur und dient als Quelle der Inspiration und Reflexion. Carl Gustav Jung, der Begründer der Analytischen Psychologie, deutete die 64 gua als archetypische Bilder der conditio humana, John Cage etwa nutzte das Yijing als Vorlage für Zufallskompositionen oder Hermann Hesse sah in ihm ein Mysterium fernöstlicher Weisheit.

*Das Zitat stammt aus einem Brief C.G. Jung’s an einen unbekannten Adressaten (Briefe Band 1, Seite 259. Olten 1972). Das Gespräch zwischen dem Mönch und Herrn Yin findet sich in den “New Tales of the World” von Liu Yiqing.